24. Oktober 2005

  • © Landkreis Reutlingen

Gemeinwesensorientierte Suchtprävention

Gemeinwesenorientiertes Suchtpräventionsprojekt
am 24. Oktober 2005 in Riederich
 
Sehr geehrter Herr Bürgermeister Bender,
Abgeordnete, Gemeinderäte, Kreisräte,
Herr Polizeidirektor Lutz,
meine Damen und Herren,


machen wir uns das Suchtproblem in Deutschland bewusst:
  • ¼ der deutschen Bevölkerung ist abhängig von einer legalen oder illegalen Droge. Das sind rd. 20 Mio. Menschen.
  • Wir sprechen über 16,7 Mio. Raucherinnen und Raucher, das durchschnittliche Einstiegsalter ist inzwischen auf 13,6 Jahre gesunken.
  • Wir sprechen über 9,3 Mio. Menschen, die Alkohol riskant konsumieren, davon sind 1,6 Mio. abhängig.
  • Wir sprechen über 3 Mio. Rauschgiftkonsumenten.
  • Wir sprechen über 1,4 Mio. Medikamentenabhängige.
  • Wir sprechen über 90 bis 150 000 beratungs- und behandlungsbedürftige Spieler.
  • Wir sprechen über 700 000 Mädchen und Frauen und 70 000 Männer, die unter Essstörungen leiden.
  • Wir sprechen über 2,6 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die in Familien suchtkranker Eltern aufwachsen und deshalb ein hohes eigenes Suchtrisiko haben.
  • Im Landkreis Reutlingen sprechen wir über 9 000 Kinder, die in Familien suchtkranker Eltern aufwachsen und ein hohes eigenes Suchtrisiko haben. Wir sprechen darüber, dass 27 % der 15- bis 25-Jährigen in ihrem Leben mindestens einmal illegale Drogen genommen haben, meine Damen und Herren, wir sprechen, bezogen auf den Landkreis Reutlingen, so gesehen über 13 000 Jugendliche.
Das sind mindestens 13.000 Gründe, meine Damen und Herren, weshalb ich das Projekt Gemeinwesenorientierte Suchtprävention in Riederich für so außerordentlich wertvoll halte.

Wir müssen enttabuisieren, wir müssen bewusst machen und wir müssen sensibilisieren.

Ich bin Ihnen, sehr geehrter Herr Bürgermeister Bender, deshalb außerordentlich dankbar, dass Sie die Weitsicht und den Mut aufgebracht haben, ja zu sagen zu diesem modellhaften Projekt im Landkreis Reutlingen. Nicht, weil Riederich hier auffällig ist, sondern weil Sie Ihr intaktes Gemeinwesen in den Dienst der guten Sache stellen.
Es gibt keine einfache Erklärung für Sucht. Also sind vielfältige Präventionsansätze notwendig.
Wir alle gemeinsam haben in anderen Modellprojekten zu Kriminalität und Gewalt in der Familie, also wie der kommunalen Kriminalprävention im Landkreis Reutlingen oder dem Projekt „Gewalt im sozialen Nahraum“ im Landkreis Reutlingen Erfahrungen gesammelt. Erfahrungen, dass es keine einfache oder eindimensionale Erklärung für Kriminalität und Gewalt in Familien und gegenüber Frauen und Kindern gibt. Wir haben lernen müssen und wir haben gelernt, dass vielfältige Präventionsansätze möglich und erforderlich sind. Wir haben lernen müssen, dass manches, das wir ausdrücklich als Projekt zur Gewaltprävention verstehen, von anderen als selbstverständlich erachtet wird.


Beispiel gefällig? Dass Mütter und Väter Deutsch lernen, um ihren Kindern ein Vorbild zu sein, dass Kinder lernen, ihre Gefühle zu benennen, um sich selbst besser wahrzunehmen, dass Jugendliche tanzen, Gospel singen oder Sport treiben, um Selbstwertgefühle zu entwickeln.

Wir haben erfahren müssen, dass dieses eben nicht immer selbstverständlich ist. Und wir haben die Erfahrung gemacht, dass in der Vernetzung verschiedener Hilfsangebote und einem neu verstandenen Präventionsansatz eine Chance besteht.
 
Und so gesehen, ist die Einsicht, dass mit einem althergebrachten eindimensionalen Verständnis von Suchtprävention die Probleme nicht zu bewältigen sind, eigentlich nur konsequent. Überträgt man also die diesem gemeinwesenbezogenen Ansatz zugrunde liegenden Gedanken auf den Bereich der Suchtprävention, ist ein kommunales „ganzheitliches“ Präventionskonzept als maßgeschneiderte Lösung für eine Gemeinde konsequent.


Ich glaube, dass ein solcher Wechsel in der Philosophie und in der Kultur von Suchtprävention notwendig und überfällig ist. Ich halte es deshalb für beispielgebend, dass anhand der funktionierenden und intakten Strukturen innerhalb der Gemeinde Riederich nach dem Motto „Suchtprävention geht uns alle an“ die Möglichkeiten eines „alltäglichen“ Gemeindelebens zu einer Suchtprävention aufgezeigt und dargestellt werden können.

Die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger spielt aus meiner Sicht eine ebenso entscheidende Rolle wie die Beteiligung der politischen und gesellschaftlichen Repräsentanten, der Vereine und Institutionen aus Riederich. Soll eine gemeinwesenbezogene Prävention nicht zum Wortspiel oder Etikettenschwindel verkommen, ist eine Beteiligung aller gesellschaftlicher Bereiche von besonderer Bedeutung. Genau dies soll in Riederich, wie ich meine, beispielhaft erfolgen. Es geht darum, eine besonders nachhaltige Methode der Verhütung von Abhängigkeiten zu entwickeln, zu realisieren und zu bewerten.
Und vielleicht kann man dieses Modell mit einem afrikanischen Sprichwort, das ich in diesem Zusammenhang neulich gelesen habe, doch auch ganz einfach beschreiben:
„Man braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen!“ Ist nicht das im Grunde der Ansatz unseres gemeinwesenorientierten Suchpräventionsansatzes?
Ich halte es für wegweisend, dass Riederich nicht so lange wartet, bis die Probleme groß und offensichtlich geworden sind. Und ich erhoffe mir auch Antworten auf die Frage, welche Angebote im Vorfeld auf Kinder positiv einwirken und somit dazu beitragen, ein Suchtverhalten zu verhindern.


Ich mache kein Hehl daraus, dass ich mir davon auch Erkenntnisse und Ergebnisse erhoffe, die wir auch auf andere Gemeinden im Landkreis übertragen können. Nicht im Sinne einer „blinden“ Übertragung von Modellen, denn jedes Gemeinwesen, jede Gemeinde hat andere Strukturen, Vereinsangebote und Bedarfe, sondern vielmehr im Sinne eines Erlernens einer Vorgehensweise. Denn die gemeinsame Arbeit in der Kommune stellt als Lernprozess verstanden einen Wert dar, der unabhängig von messbaren präventiven Ergebnissen bereits einen Wert darstellt. In diesem Sinne wünsche ich dem Projekt und allen darin Engagierten ein herzliches Glückauf!

Zusammenfassend: Hut ab vor der Gemeinde Riederich, Hut ab vor Ihnen, Herr Bürgermeister Bender, dafür, dass Sie dieses Projekt in Riederich gestalten.

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