24. Februar 2006

  • © Landkreis Reutlingen

"Ehrenamt und Politik"

 

Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung 10 Jahre Fußballkids helfen am 24. Februar 2006, 19.30 Uhr, KSK Eningen


Sehr geehrte Frau Dr. Dürr, sehr geehrte Frau Kunert,
MdBs, MdL,
Frau Bürgermeisterin Krug,
Damen und Herren Gemeinderäte und Kreisräte,
Herr Kopp, 
meine Damen und Herren,

über Ihre Einladung, heute im Rahmen der Forumsveranstaltungen der Kreissparkasse in Eningen zu Ihnen sprechen zu können, habe ich mich sehr gefreut. Schließlich hat Eningen einen guten Ruf, wenn es um die Vereinsarbeit und das Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger im Ehrenamt geht. Ich freue mich, dass Sie an Ihrer Einladung festgehalten haben, obwohl ich ja seit gestern öffentlich abgesetzt und damit ein Landrat a. D. bin. Vor allem aber ist es mir wichtig, die 10-jährige Erfolgsgeschichte der Fußballkids zu würdigen und den Initiatoren, Ihnen, liebe Frau Dr. Dürr, und Ihnen, Frau Kunert, und allen beteiligten Kids meine Anerkennung auszusprechen.

Sie haben mich gebeten, das Thema Ehrenamt und Politik zu beleuchten.

Lassen Sie mich zunächst einen Gedanken mit Ihnen teilen: Wir alle sind in der Bundesrepublik Deutschland heute mit einer Wirklichkeit konfrontiert, wie es sie vor 20 Jahren nicht gegeben hat. Eine Wirklichkeit, von der wir der Meinung sind, wir würden in so schlechten Zeiten leben, wie es vergleichbare überhaupt noch nicht gegeben hat. Ich glaube, es lohnt sich, auch beim Thema Ehrenamt kurz inne zu halten und darüber nachzudenken, was denn das für Zeiten gewesen sind, in denen die Generation vor uns unser Land nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut hat.
Ich bin überzeugt davon: Wir haben die Verantwortung und es liegt in unserer Hand, die schöpferischen Kräfte der Menschen zu wecken und zur Entfaltung kommen zu lassen.

Der Kernpunkt ist doch, meine Damen und Herren, dass eine weitere Verschuldung weder auf kommunaler Ebene noch auf Landes- oder Bundesebene akzeptabel ist und dies auch nicht sein darf, weil die Schuldenberge schon jetzt die Zukunft unserer Kinder belasten. Keine Frage: Der Sozialstaat ist eine Errungenschaft, auf die wir stolz sein können und um die es sich zu kämpfen lohnt. Aber der Sozialstaat, wie er sich heute darstellt, kann nicht mehr alles leisten, was wir von ihm erwarten. Wir haben es nicht geschafft, alle zusammen nicht geschafft, den Sozialstaat rechtzeitig auf die Bedingungen einer alternden Gesellschaft und einer veränderten Familien- und Arbeitswelt einzustellen. Wir müssen deshalb unsere Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik noch viel mehr – übrigens auch auf örtlicher Ebene – nach dem Prinzip der Nachhaltigkeit gestalten. Somit müssen auch im Landkreis und in den Kommunen die Besitzstände auf den Prüfstand. Wir alle müssen uns bewegen. Wer nur etwas vom anderen fordert – je nach Standort von den Arbeitgebern, von den Gewerkschaften, dem Staat, der Gemeinde, dem Landkreis – der bewegt gar nichts. Es darf keine Tabus geben. Das klingt leicht - doch wie soll das gehen?

Nun, wir brauchen eine verantwortungsbewusste Balance von Eigenverantwortung und staatlicher Fürsorge. Wir brauchen ein gemeinsames Verständnis von Solidarität, Solidarität im Vertrauen auf das verantwortliche Handeln eines jeden Einzelnen für sich selbst und die Gemeinschaft. Solidarität, verstanden als Hilfe für den Arbeitslosen, den Behinderten, den Jugendlichen, das Kind, dem die Kraft fehlt, sich selbst zu helfen und für sich selbst einzustehen. Solidarität, verstanden aber auch als Rücksicht auf die kommenden Generationen. Dazu brauchen wir die Kraft, alte Denkmuster zu überwinden. Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft – jeder muss Verantwortung für das Wohl des Ganzen übernehmen; jeder kann und muss sich einbringen und einbinden lassen.
Doch Menschen mit Mut, Ideen und Verantwortungsbewusstsein fallen nicht vom Himmel. Sie werden geprägt: in der Familie, der Schule, in ihrem Wohnviertel. Deshalb sind Bildung und Erziehung tatsächlich der Schlüssel. Bildung und Erziehung, das bedeutet, Kreativität zu fördern, Ideen zu wecken und Werte zu vermitteln. Das gelingt aber nur denen, die Vorbilder schaffen und Ideale auch selbst vorleben. Die Zeit ist reif für das Wiederentdecken der Familie und der Vereine. Die Zeit ist aber  auch reif, zu verstehen, dass Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement eine unverzichtbare Bedingung für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist. Wir müssen uns deshalb mit der Förderung des bürgerschaftlichen Engagements beschäftigen, ohne im alten Denken verhaftet zu sein. Wir müssen bereit sein, scheinbar gesetzte Grenzen zu überschreiten.

Um nun von vorneherein Missverständnisse zu vermeiden, sei klargestellt, dass das Ehrenamt nicht zum „Ausfallbürgen des Sozialstaats“ werden darf. Richtig ist aber, dass die Demokratie abhängig ist von den vielen, die neben ihren ökonomischen Interessen freiwillig bürgerschaftlichen Einsatz für das Gemeinwohl erbringen. Neben dem Staat und der Wirtschaft ist das bürgerschaftliche Engagement eine tragende Säule unserer gesellschaftlichen Struktur, denn das bürgerschaftliche Engagement stärkt das demokratische Fundament unseres Staates.

Auch wenn es sich um vermeintlich unpolitische  soziale Dienste handelt, wird demokratisches Handeln gelernt und geübt. Gemeinsam für ein Ziel arbeiten, Argumente abzuwägen, Kompromisse zu finden – ohne dieses in einer Demokratie unverzichtbare Verhalten kommt keiner aus, der sich mit anderen und für andere engagiert. Wenn sich jemand für den Erhalt eines Freibades einsetzt, in einem Kulturzentrum mitarbeitet oder Kinder- und Altenbetreuung in seiner Nachbarschaft organisiert, dann nimmt er oder sie ganz unmittelbar Einfluss auf das eigene Lebens- und Wohnumfeld, ja, er gestaltet Gesellschaft mit.
Ehrenamtliche Tätigkeiten vermitteln Fähigkeiten, die in Zukunft im Zuge der Umwandlung von Industriegesellschaften in Wissens- und Dienstleistungsgesellschaften eine immer größere Bedeutung haben werden, denn im Zuge dieses Strukturwandels sind in der beruflichen Praxis längst andere als die einstmals geforderten Qualifikationen wesentlich. Kreativität, Teamgeist, Denken in Zusammenhängen, Kommunikationsfähigkeit, Flexibilität im Sinne von fortwährender Lernbereitschaft. Ganzheitliche Persönlichkeitsbildung ist wichtiger als schmalspuriges Spezialistentum. Wir brauchen Menschen mit kreativer Phantasie, die den Problemen der Gegenwart mit zukunftsgerichteten Ideen entgegentritt.
Und es ist doch keine Frage: Wir alle wollen keine Gesellschaft, in der nur das Monetäre zählt. Der Mensch darf nicht reduziert werden auf seine beiden marktmäßigen Rollen, nämlich Arbeitskraft und Konsument zu sein.

Bürgerschaftliches Engagement bedeutet also Vielfalt und erst in diesem weiten Verständnis, das alle vielfältigen Tätigkeiten einbezieht, erschließen sich die Dimensionen dieser Aktivitäten und ihrer Bedeutung für unser Gemeinwesen. Wir sprechen über Tätigkeiten in Vereinen und Verbänden, Kirchen, karitativen und anderen gemeinnützigen Organisationen, in freiwilliger Agentur, Hospizbewegung oder Tafeln.
Und vor diesem Hintergrund werden Leitlinien erkennbar, die uns lenken müssen: 
1. Die Förderung ehrenamtlich aktiver Bürgerinnen und Bürger und deren individuellen Engagement hat auch und vor allem eine gesellschaftspolitische Dimension.
2. Bürgerschaftliches Engagement ist aber auch ein Wert an sich. Es wird nicht erbracht, weil die Professionellen nicht gut genug sind oder weil es nicht genügend von ihnen gibt, sondern es wird doch auch erbracht, weil es Bedarfe gibt, die nicht ausschließlich in erwerbsmäßig organisierten Strukturen erbracht werden können und sollen. Weil es gut ist, dass ein Mensch sich einem anderen aus altruistischen Motiven zuwendet und weil es für den Helfenden gut ist, gebraucht zu werden und etwas Sinnvolles zu tun. Hätten nicht so viele Menschen ein Bedürfnis danach, sich durch Helfen etwas Gutes zu tun, das Ehrenamt hätte nach meiner festen Überzeugung die gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte nicht so kraftvoll überlebt. Menschen wollen helfen – aber sie wissen oft nicht wie und wo. Manchmal muss man sie stupsen oder am Ellbogen kräftig mitnehmen.
3. Offensichtlich gibt es einen Strukturwandel in den Motiven der engagierten Bürgerinnen und Bürger: Während Menschen sich früher typischerweise langfristig einer bestimmten Organisation verpflichten und „ihrem“ Verein ein Leben lang verbunden blieben, engagieren sich heute zunehmend Menschen eher spontan und projektförmig. Das Engagement muss zur jeweiligen Lebenssituation passen.
4. Und vielleicht ist noch bedeutsamer die Erkenntnis, dass bürgerschaftlich Engagierte mit ihren Aktivitäten heute in stärkerem Maße Bedürfnisse nach Eigenverantwortung und Selbstbestimmung verbinden als früher. Daraus resultieren neuartige Anforderungen an Mitbestimmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten.

Also: Um es klar zu sagen: An diesen veränderten Motiven, an den geänderten Erwartungshaltungen und Anforderungen werden sich zukünftige Strategien und Maßnahmen zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements zwangsläufig orientieren müssen.

Welche Folgerungen sind hieraus für die Förderung und Forderung des Ehrenamtes zu ziehen? Ich möchte dies in Thesen formulieren:

  1. Zum einen: Wir brauchen Entscheider, die das Ehrenamt nicht nur als Ressource für die unvermeidlichen Lücken sehen, sondern es als eigenständige Kraft erkennen und zu schätzen wissen. Die ehrenamtlich Engagierten müssen als Menschen wahrgenommen werden, die vielleicht früher spüren, wo es neuen Bedarf gibt und wie sich unsere Umgebung besser gestalten lässt. Wir können von ihnen viel über die Wirklichkeit lernen.
  2. Zum anderen muss es darum gehen, sinnvolle Strukturen zu schaffen, in denen das Ehrenamt seine Kraft entfalten kann: Wir müssen beteiligungsfreundliche Strukturen in Schulen, Krankenhäusern, Altenheimen und anderen öffentlichen Einrichtungen schaffen und diese als zentrale strategische Ausgangspunkte verstehen, um Bürger zur aktiven Mitwirkung in der Gesellschaft zu bewegen. Alle jene Orte, an denen sich Hilfsbedürftige und Hilfsbereite begegnen können, müssen beteiligungsfreundlicher gestaltet werden. Wir brauchen eine Anstiftung von Eigenaktivität in Kooperation von professionellen Mitarbeitern und freiwillig Engagierten.
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  4. Folglich: Der Schlüsselbegriff in unserer Wissensgesellschaft heißt „Weiterbildung“ und Fortbildung. Ich denke, auch diese Ressource muss bei den Ehrenamtlichen besser genutzt werden.
  5. Konsequenz:
    Lassen Sie uns über eine verbesserte Anerkennungskultur sprechen. Ich meine nicht ein bisschen Imagekosmetik, sondern spürbare Wertschätzung. In den USA gehört es zum guten Ton und zum persönlichen Ansehen, sich als Freiwilliger zur Verfügung zu stellen. In Holland gibt es überzeugende Konzepte. Davon sind wir bei uns in Deutschland noch weit entfernt. Die Bereitschaft zu einem intensiven, unentgeltlichen Engagement betrachten immer noch viele als eine Art persönliche Dummheit. Nur Erwerbsarbeit ist ein anerkannter Wert, je besser bezahlt, desto höher natürlich. Es ist also Sache von uns allen, aber auch des Staates, der Kommunen, der Politik, der Kirchen und Verbände, dieses Bild durch deutliche und positive Signale zu verbessern.
  6. Brauchen wir nicht auch Kontakt- und Anlaufstellen, die Interessierten aller Altersstufen Wege zum Engagement weisen und Auskünfte zu einschlägigen Fragen geben? Aus den Senioren- und Bürgerbüros sind in vielen Fällen Freiwilligenzentren entstanden. Ich halte dies für eine zukunftsweisende Idee.
    Wichtig sind Gesprächsforen zum gegenseitigen Austausch. Wer vom eigenen Handeln überzeugt ist, bringt besser als jede Hochglanzbroschüre jenen Ansteckungseffekt rüber, der andere zur Mitarbeit ermutigt.
  7. Und klar: Nicht zuletzt brauchen Ehrenamtliche Anerkennung und gelegentlich ein ehrliches Dankeschön. Auf der kommunalen Ebene gibt es inzwischen in einigen Städten und Gemeinden genügend Beispiele von Ehrenamts-Cards. Freiwillige kommen so zu verbilligten Eintritten in Schwimmbäder, Theater oder Museen.
  8. Vor allem aber – und damit komme ich zu meiner letzten These – brauchen Ehrenamtliche zeitgemäße Rahmenbedingungen. Ehrenamtliche brauchen, wo sie das wünschen, Fortbildungsangebote, die sich nicht an professionellen Standards orientieren, sondern auf die Erfordernisse ihrer Arbeit zugeschnitten sind.

Für notwendig halte ich in diesem Zusammenhang Nachweise über ehrenamtliche Arbeit und die einschlägige Fortbildung. Sie können bei der Bewerbung um einen Arbeits-, Ausbildungs- oder Studienplatz von Vorteil sein.
Freiwilliges Engagement darf auch nicht nur denen offen stehen, die es sich leisten können, neben Zeit und Kraft auch noch Geld zu investieren. Dies würde eine Zwei-Klassen-Gesellschaft hervorrufen. Wichtig ist deshalb, über ein Schließen der Versicherungslücken in der gesetzlichen Unfallversicherung und der privaten Haftpflicht für ehrenamtlich Tätige voranzukommen.

Meine Damen und Herren, viel zu tun also für die Politik, wenn sie das Potenzial des Engagements in unserem Land ausschöpfen möchte. Wir brauchen dazu selbstbewusste, ehrenamtlich engagierte Helfer, die in den Politikern auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene neugierige und flexible Partner finden. Die gemeinsame Gestaltung des demographischen Wandels ist das Gebot der Stunde für ehrenamtliche und professionelle Helfer und für die Politik.

Sie, Frau Dr. Dürr, und Sie, Frau Kunert, haben mit der Eninger Aktion „Fußballkids helfen“ es nicht damit bewenden lassen, eine Idee und eine Vision zu haben, sondern diese erfolgreich umgesetzt. Sie haben damit einen Beitrag dazu geleistet, „eine Aufbruchstimmung für mehr Verantwortung füreinander und für die Gesellschaft zu erzeugen“. Hierfür im Namen des Landkreises, des Kreistags und persönlich herzlichen Dank.


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